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            Das Abenteuer der 
            türkischen Sprache, Prof. Dr. Hasan Eren
              
            Der junge Schwedenkönig Karl XII. 
            erlitt 1709 in der Schlacht von Poltava eine schwere Niederlage 
            gegen die Russen. In diesem Krieg gerieten Tausende schwedischer 
            Offiziere in Russische Gefangenschaft. Unter ihnen war auch Philip 
            Johan Tabbert, der später den Familiennamen Strahlenberg annahm. Die 
            Reise dieser Gefangenen nach Westsibirien endete 1911 in Tobolsk.
 In Tobolsk hatten die Verbannten die Möglichkeit, sich mit 
            verschiedenen Arbeiten zu befassen. Während einer zehnjährigen 
            Zeitspanne erforschten diese zumeist gebildeten Schweden Sibirien 
            von unterschiedlichen Gesichtspunkten her. Als Strahlenberg 1722 
            nach Schweden zurückkehrte, veröffentlichte er die in Russland und 
            Sibirien gesammelten Beobachtungen in einem großen Werk unter dem 
            Titel: „Europa und die nördl. und östl. Teile Asiens“ (Stockholm 
            1730). Die von Strahlenberg mitgeteilten Kenntnisse erweckten nicht 
            nur Schweden, sondern in ganz Europa großes Interesse. Das Buch 
            wurde in kurzer Zeit ins Englische, Französische und Spanische 
            übersetzt. Durch die Beobachtungen Strahlenbergs – neben anderen 
            Themen – zu den Sprachen der in Nordeuropa und Sibirien gesprochenen 
            Sprachen, die zu seiner Zeit „tatarische Sprachen“ genannten wurden, 
            in sechs Gruppen unterteilt:
 
 1. Finnische und ungarische Sprachen
 2. Die Sprachen der Tataren, Jakuten, Tschuwaschen und Türken, der 
            in Krimtataren und Usbeken, der Baschkurt, Kirgisen und 
            Turkmentataren
 3. Samojedisch
 4. Mongolisch und Mandschusprachen
 5. Tungusisch
 6. Sprachen der Stämme zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer
 
 In späteren Jahren charakterisierte Strahlenberg die zuerst als 
            Tatarische Sprachen benannten als „Ural-Altaische“ Gruppe. Wie man 
            aus der Bezeichnung schon entnehmen kann, trennt sich diese Gruppe 
            in zwei große Zweige. Der Ural-Zweig umfasst Sprachen wie Finnisch, 
            Ungarisch, Lappisch, Wogulisch, Ostiakisch, Wotiakisch usw. Im 
            Altay-Zweig dagegen versammeln sich das Türkische, Mongolische, 
            Mandschu, Tungusisch usw. In den letzten 50 Jahren wurde behauptet, 
            auch das Koreanische gehöre zum Altay-Zweig.
 
 Die vielleicht interessanteste Mitteilung, die Strahlenberg macht, 
            bezieht sich auf eine Ansammlung von Steinen, die Grabsteine 
            darstellen, am Ufer des Jenisej. Da er nicht wusste, ob die auf 
            ihnen eingehauenen Zeichen Buchstaben waren, begnügte sich 
            Strahlenberg für sein Buch mit einem handgezeichneten Beispiel 
            dieser Zeichnungen.
 
 Der finnische Archäologenverein sammelte am Ende des 19. 
            Jahrhunderts (1889) die nahezu vergessenen, zerstreuten Denkmäler in 
            einem Atlas und schickte diesen an interessierte Wissenschaftler. 
            Die Zeichen auf den Steinen wurden als Schrift identifiziert, und 
            die unbekannte Sprache erregte in den Kreisen der Wissenschaft 
            großes Aufsehen. Als im Jahre 1889 N.M. Jadrinzev aus Irkutsk noch 
            zwei ähnliche Inschriften an der Mündung des Orhun in die Selenga (Nördliche 
            Mongolei) fand, wurde das Interesse weiter gesteigert. Daraufhin 
            schickte die Irkutsker Geographische Gesellschaft sofort eine 
            Abordnung in das Gebiet. Der Wert des Fundes stand innerhalb kurzer 
            Zeit fest. Im Namen der Ugrofinnischen Gesellschaft ging Heikel 1890 
            – 91 ins Orhun-Tal und kopierte alle Inschriften, die er fand. Ein 
            neues Album mit den gesammelten Kopien und Bildern erschien 1892. 
            Unter Vorsitz des Turkologen Wilhelm Radloff begannen 1891 auch die 
            Russischen Wissenschafter, an diesen Steinen zu arbeiten und 
            ebenfalls bald ein Album zu veröffentlichen.
 
 Durch die Funde vom Orhun-Tal hatte sich die Lage unerwartet 
            verändert. Zu Strahlenbergs beschrifteten Steinen kamen zwei lange 
            Inschriften hinzu. Die eine befand sich auf einem 332 cm hohen 
            Stein, der an seiner ursprünglichen Stelle stand; beschriftet war 
            ein Anteil von 231 cm Höhe. Das andere Monument lag um die Basis in 
            vier einzelnen Bruchstücken verstreut.
 
 Auf beiden Denkmälern gab es auch chinesische Texte. Aus diesen 
            konnte man entnehmen, daß die Gedenksteine von den Gök-Türken 
            stammten. Dementsprechend musste sich in der unbekannten Inschrift 
            eine alte Turk-Sprache verbergen.
 
 Nun begann unter den Sprachwissenschaftlern der Wettlauf um die 
            Entzifferung der Buchstaben, den 1893 der bekannte dänische 
            Sprachforscher Wilhelm Thomsen (1842 – 1927) gewann. Er schickte 
            seine Lösung an die Dänische Akademie der Wissenschaften. Diese 
            wichtige Entdeckung besagte, dass es sich um eine Schrift mit 38 
            Zeichen handelte. Die Inschriften stammten aus den Jahren 732 und 
            734, und haben als älteste Dokumente der türkischen Sprache großen 
            Wert. Nur wenige Nationen der Welt besitzen derartig alte 
            Sprachdenkmäler.
 
 Ein türkischer Sprachwissenschaftler des XI. Jahrhunderts, Mahmut 
            von Kaschgar, hatte unter dem Titel „Divan –i Lügat – it – Türk“ (Gesammelter 
            Wortschatz des Türkischen) das gesamte Wissen seiner Zeit über die 
            Türken zusammengetragen. In diesem Werk spricht der Verfasser auch 
            von den Zweigen der Turkvölker und benennt einige Hauptmerkmale 
            ihrer Sprachen. Mahmut von Kaschgar hat seinem unvergleichlichen 
            Werk auch eine Karte beigefügt, die die älteste türkische Karte der 
            Geschichte darstellt. Sie zeigt, wo die Türken und ihre 
            Nachbarvölker seinerzeit wohnten. Mahmut von Kaschgar benennt unter 
            anderem folgende Stämme der Türkischen Nation: „Beçenek, Kıpçak, 
            Oğuz (Guz), Yemek, Başkurt, Suvar, Bulgar, Tatar, Çiğil, Yağma, 
            Uğrak, Çaruk, Uygur, Kırgız“ usw. Wir sehen, dass schon in jener 
            Zeit sich die Türkischen Stämme über ein weites geographisches 
            Gebiet verteilten.
 
 Der Autor hat auch die Unterschiede zwischen den weitverstreuten 
            türkischen Zweigen festgestellt. Doch sieht er sie eher auf 
            phonetischem Gebiet, erst in zweiter Linie im Bereich des 
            Wortschatzes.
 
 Ebenso wie der „Divan-i Lügat – it – Türk“ über die Bulgaren, wohl 
            wegen der geographischen Entfernung, nur wenig mitteilt, so schweigt 
            er auch über die Hazar-Türken. Diese hatten zwischen dem 7. und 10. 
            Jahrhundert nördlich vom Kaspischen Meer ein großes Nomadenreich 
            begründet. Wir wissen, daß im 9. und 10. Jahrhundert Kiev mit den 
            Hazar verbunden war. Im 10. Jahrhundert verschwinden die Hazar von 
            der Bühne der Geschichte. Ihr Name findet sich heute nur noch in der 
            türkischen Bezeichnung für das Kaspische Meer, nämlich „Hazar-Denizi“.
 
 Ein Teil der Bulgaren hatte auf dem Balkan einen Staat gegründet und 
            war bald darauf sklavisiert worden. Der Name der in der alten Heimat 
            verbliebenen Bulgaren hingegen geriet langsam in Vergessenheit. Doch 
            die Sprachen der Bulgaren und Hazar werden noch heute bei den 
            Tschuwaschen (Çuvaslar) gebraucht. Die Sprache der Tschuwaschen, die 
            in der Sowjetunion am Ufer der mittleren Wolga leben, hat einige 
            Hauptmerkmale der altbulgarischen Sprache bewahrt. Auch in den 
            Ländern der Tataren und Bozkurt finden sich verstreut Tschuwaschen; 
            nach letzter Zählung beträgt ihre Zahl insgesamt 1.695.000 Personen.
 
 Im Land der alten Bulgaren lebten auch die Ungarn. Die heute im 
            Ungarischen verwendeten türkischen Wörter stammen großenteils aus 
            dem Altbulgarischen.
 
 Sind die Namen der Kipçak (und Kuman) heute auch vergessen, so leben 
            doch einige Hauptmerkmale ihrer Dialekte in den modernen 
            Turksprachen weiter. Als zeitgenössische Verzweigungen der alten 
            Kıpçak-Türken können wir die Tataren, Baskurt, Kazak (Kosaken), Kara 
            Kalpak, Novay und Kirgisen betrachten.
 
 Ein Großteil der Tataren (1.536.000) heißen Kazan-Tataren. Auch die 
            Miäer (300.000) und Tepter (300.000) gehören zu den Tataren. Die 
            Litauischen Tataren (7.000) haben einstmals ihr Wohngebiet an der 
            Wolga verlassen und sich in Litauen angesiedelt. In Westsibiren 
            werden eine Reihe von Tatarendialekten unter verschiedenen 
            Bezeichnungen gesprochen (50.000). Die Krim-Tataren, deren Anzahl 
            unbekannt ist, und die Dobrutscha-Tataren (5.000 – 6.000) gehören 
            ebenfalls zur Tatarenfamilie.
 
 Den Namen der Başkurt (Baschkurt) kennen wir seit Mahmut von 
            Kaschgar. Man schätzt die Zahl der im tatarischen, usbekischen, 
            kirgisischen und tadschikischen Gebiet lebenden Angehörigen dieser 
            Gruppe auf 125.000.
 
 Die Zahl der in Kazakistan (Kasachstan) lebenden Kazaken (Kasachen; 
            auch der Name Kosaken stammt natürlich daher) beträgt 4.234.000. 
            Auch in Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan und Tadschikistan 
            findet man Kasachen. Insgesamt muss man sich ihre Zahl in der 
            bisherigen Sowjetunion als 5.299.000 vorstellen. Außerdem weiß man, 
            daß in Afghanistan, in der Mongolei und China 500.000 Kosaken wohnen. 
            Die Kara Kalpak siedeln in dem Gebiet südlich des Aral-Sees 
            (236.000). In Afghanistan beträgt ihre Zahl annähernd 2.000. Die 
            Nogay (52.000) leben am nördlichen Kaukasus. Ihre Zahl in der 
            Sowjetunion beträgt insgesamt 70.000.
 
 Die Kirgisen befinden sich zum großen Teil in Kirgistan (1.285.000), 
            jedoch auch in den Nachbarländern. Vermutlich beträgt ihre Zahl in 
            der gesamten bisherigen Sowjetunion 1.452.000. Auch in China leben 
            etwa 80.000 Kirgisen und außerdem einige in Afghanistan und 
            Pakistan.
 
 Ein Zweig der Özbek (Usbeken) spricht einen Kıpçak-Dialekt. Auch die 
            im Kaukasus lebenden Karaçay (113.000) und Balkar (60.000) sind 
            Zweige der Kıpçak. Ebenso gehören die in Dağıstan (Daghestan) 
            lebenden Kumuk (189.000) vom Sprachlichen her zu den Kıpçak.
 Schließlich zählen auch die in der Ukraine, auf der Krim, in Litauen 
            und Polen verstreut lebenden Karaim zu den Völkern, die einen 
            Kıpçak-Dialekt sprechen. Die Karaim selbst betrachten sich als 
            Abkömmlinge der Hazar. Ihre Zahl beträgt etwa 5.000.
 
 In den alten türkischen Inschriften war, wie wir gesehen haben, von 
            den Oğuz die Rede. Auch Mahmut von Kaschgar spricht im XI. 
            Jahrhundert von den Oğuz und ihrer Sprache. Wie der Name Kıpçak, so 
            wird auch Oguz heute nur noch als Bezeichnung einer Sprache 
            verwendet. Die Eigenarten des alten Oğuz-Dialektes haben sich bis 
            heute im Türkei-Türkischen, im Azeri-Türkischen, im Turkmenischen 
            und in der Sprache der Gagavuz erhalten. Die Zahl der Gagavuz 
            beträgt etwa 200.000, davon leben ungefähr 157.000 im Gebiet der 
            UdSSR.
 
 Die Sprachen der Zypern-Türken und der auf dem Balkan lebenden 
            Türken gehören zum anatolischen Türkisch. Die Azeri (Aseri) leben in 
            der bisherigen Sowjetunion in Aserbeidschan mit rund 4.380.000 und 
            im nördlichen Iran mit 3.700.000. Ob die Sprache der Halaç (Haladsch), 
            die ebenfalls im Iran leben, ein Zweig des Azeri-Türkischen ist oder 
            ein archaischer Turk-Dialekt, wissen wir nicht genau. Doch steht 
            fest, dass sich in dieser Sprache archaische Besonderheiten erhalten 
            haben.
 
 Der Name der Türkmen (Turkmenen) wird seit dem 11. Jahrhundert 
            verwendet. Die mit diesem Namen bezeichneten Türken leben 
            großenteils (1.417.000) in Turkmenistan in der bisherigen UdSSR. 
            Zählen wir auch noch die Turkmenen dazu, die im nördlichen Kaukasus, 
            in Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan leben, so kommen wir auf 
            eine Zahl von 1.525.000. Mit den Turkmenen in Afghanistan, Iran, der 
            Türkei, im Irak, in Syrien und Jordanien sind es insgesamt 2 Mio.
 
 Die Dialekte der in Ostturkistan lebenden Türken nennt man 
            Ost-Türkisch oder „Turki“. Zu dieser Gruppe gehören das 
            Neu-Uigurische (Uygur, Uighur), Usbekische (Özbek), Salarische und 
            Gelb-Uigurische. Das Neu-Ugurische entwickelte sich im 9. – 12. 
            Jahrhundert als moderner Zweig des Uigurischen. Das Usbekische 
            hingegen beruht auf der Schriftsprache der Çağatay (Tschagatai), die 
            im 15. Jahrhundert ein großes Wachstum erlebte. Man nimmt an, dass 
            das Salarische ein Zweig des Neu-Uigurischen ist. Die Gelb-Uiguren 
            (Sari Uygur) dagegen, die in Kansu in China wohnen, sind Abkömmlinge 
            der alten Uiguren, die einst in der Mongolei ein großes Reich 
            gegründet hatten.
 
 Die Zahl der in Usbekistan (Özbekistan) lebenden Usbeken beträgt 
            etwa 7.725.000. Insgesamt leben in der UdSSR hingegen 9.195.000 
            Angehörige dieses Volkes. In Afghanistan gibt es 650.000 Usbeken und 
            in China 15.000.
 
 Von den Neu-Uiguren (Yeni Uygur) leben in China fast 3,6 Millionen 
            und innerhalb der Grenzen der bisherigen UdSSR 173.000.
 
 Am südlichen Ufer des Hoang-ho lebt der größte Teil der Salaren (Salar) 
            mit 30.000 Personen.
 
 Die Gelb-Uiguren (Sari Uygur) bilden in der Provinz Kansu in China 
            eine kleine Gemeinschaft von etwa 4.000 Menschen.
 
 Zuletzt betrachten wir noch die Türken, die in Südsibirien leben und 
            die vom sprachlichen Gesichtspunkt aus eine eigene Gruppe bilden:
 
 1. Altay (bzw. Oyrut) - Zweig mit 56.000 Personen
 2. Hakas (bzw. Abakan) - Zweig mit 67.000 Personen
 3. Tuva (bzw. Sayan) - Zweig mit 139.000 Personen
 
 Die in Ostsibirien an den Ufern der Lena, Jana, Indigirka und Wiluj 
            lebenden Jakuten nehmen unter den zeitgenössischen Türkischen 
            Dialekten eine Sonderstellung ein. Die Jakuten nennen sich selbst „Saha“. 
            Den Namen „Jakut“ haben die Russen verbreitet.
 
 Die oben aufgezählten türkischen Dialekte stehen in der bisherigen 
            UdSSR nach dem Russischen an zweiter Stelle.
 
 Wir haben die Hauptlinien der heutigen türkischen Dialekte verfolgt 
            und gesehen, dass sie von der Balkanhalbinsel bis nach China hin 
            gesprochen werden. Wir haben auch versucht, aufgrund neuester 
            Angaben die Zahl derer, die diese Dialekte sprechen, zu ermitteln.
 
 Nun zur Gesamtsumme: Rechnet man auch die Türken in der Türkei, auf 
            dem Balkan, auf Zypern, in den arabischen Nachbarländern und im Irak 
            mit, so kommt man auf mindestens 145 Millionen Menschen auf der 
            ganzen Welt, die heute Türkisch sprechen; das ist eine Ausnahme, die 
            der Wirklichkeit sehr nahe kommt, wie ich meine.
 
 Der bekannte Turkologe Wilhelm Radloff drückte das 1866 so aus: „Vom 
            Nordosten Afrikas bis zur europäischen Türkei, vom südöstlichen Teil 
            Russlands über Kleinasien nach Turan und von dort nach Sibirien, bis 
            zur Wüste Gobi hin leben Stämme, die die türkische Sprache sprechen. 
            Auf der ganzen Welt ist keine Sprachfamilie über ein so weites 
            Gebiet hinweg verbreitet wie das Türkische“.
 
 
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